>> Kein Titel /// Angela Stief /// 2021

Wenn man das Œuvre von Suse Krawagna betrachtet, wird schnell klar, dass es um sehr wenig, aber gleichzeitig auch um sehr viel geht. Der experimentelle Charakter des Werkes liegt auf der Hand. Virtuosität entsteht durch die wiederholende Übung der Liniensetzungen: Isolierte Linien und Liniengespinste, Linien, die sich aufspalten, die ihren ursprünglichen Verlauf, manchmal die Form verloren haben oder im Begriff sind, sie zu verlieren, beherrschen das Bildgeschehen. Linien, die auseinander laufen, sich verdünnen, um sich daraufhin – möglicherweise – auch wieder zusammenzufinden, sich vervielfachen. Verschwinden. Ausfransen. Multiplizieren. Verdichten. Strukturen bilden. Abweichen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich die Form oder das Formlose der Linie auf der Bildoberfläche organisch fast zufällig entwickelt. Ein seltsamer Rhythmus von Begegnung und Auflösung bestimmt diese Bilder – Sehnsucht, Erfüllung und Trennung. Das Lineare als eine ungewöhnliche Inszenierung des Ungewissen, des noch nicht Gewesenen, das die Zukunft durch die Aufgabe von Kontrolle nicht verstellt.

Es geht bei dieser Kunst ganz sicher nicht um irgendeine Mode, um eine kurzlebige, gefällige Oberflächenerscheinung wie man sie auf unzähligen und überflüssigen Messen und Ausstellungen antrifft. Kein abrupt aufblühender Hype, der schneller, als er gekommen ist, auch wieder vergeht. Dieses Werk hat eine andere Geschwindigkeit, sperrt sich jeder Art der Geschäftigkeit. Ohne gedankliche Entschleunigung ist es weder zu erkennen noch zu rezipieren. Es kontert den manchmal beunruhigenden aktuellen Tendenzen der Akzeleration, ihren alltäglichen und künstlerischen Entsprechungen. Es formuliert eine Absage an die Dringlichkeitsgebarungen der Metropolen. Krawagna konzentriert sich auf etwas Essentielles in der Kunst, verdichtet gewissermaßen Zeit zu einem ästhetischen Nukleus der Gegenwart. Umso länger man sich mit dieser Arbeit beschäftigt, desto mehr entfaltet sie ihre ungewöhnliche Zeitlosigkeit, hält der fortlaufenden Progression, dem Vergehen der Zeit, dem Dauerhaften, fast kühn und unerschrocken entgegen. Sie ist angereichert mit dem Konzentrat einer reichen Kunsthistorie am Rande der medialen Auflösung. Permanent lotet sie das Verhältnis von Malerei und Zeichnung aus respektive verhandelt das Malerische im Grafischen und das Grafische im Malerischen. Mittels einer Allianz von Linie und Farbe, die weder dem Medium – Grafik und Malerei – noch dem Material geschuldet ist, erkundet Krawagna die Grenzen des Darstellbaren und folglich auch der Wahrnehmung.

Krawagna hat sich gänzlich der Abstraktion verschrieben und sich einer Reduktion in einem nicht kunsthistorischen Sinne verpflichtet, die etwa mit den industriellen Produktionsverfahren des Minimalismus, die den Autor verdrängen, nichts gemein hat. Den Werken auf Papier und Leinwand, die stets das Grafische und das Malerische in Verbindung setzen, um es daraufhin auch wieder gegeneinander auszuspielen, liegt ein tatsächlicher Abstraktionsprozess zugrunde. Sie sind nicht einfach nur nicht-gegenständlich oder, was schlimm wäre, ideologisch. Abstrakte Kunst wird häufig dahingehend reduziert, eine Ideologie zu illustrieren. Das Ideologische, das meist doktrinär daherkommt, hat die Künstlerin für sich zugunsten des Naheliegenden, Impressionistischen im Sinne von dem, was sie beeindruckt, ausgeschlossen: Es sind banale, beiläufige Dinge, die die Künstlerin fast zufällig entdeckt. Alltagsgut, architektonische Details, Treppengeländer, Fenstersimse, diffuse und nebensächliche Licht-Schattenspiele werden zu wichtigen Einflüssen, zum Bildprogramm von Krawagnas künstlerischem Universum. Unwesentliches, das andere übersehen würden, weckt das Interesse der Künstlerin. Das Ephemere betonen meint auch dem Unbeachteten Bedeutung schenken, Aufmerksamkeit spenden. Der poetische Charakter des Œuvres, das häufig eine meditative Ruhe und Konzentration ausstrahlt, liegt vielleicht gerade auch darin begründet, dass Krawagna aus ganz wenig, ja fast nichts etwas Großes entstehen lässt.