>> Variabilität und Resistenz /// David Komary /// 2007
Eröffnungsrede zur Ausstellung von Suse Krawagna, Galerie Stadtpark, Krems
„Gerade im Durchspielen jener im Bilde enthaltenen Kontravalenzen wird sich der Beschauer seiner eigenen Strukturierungsaktivität, aber auch seiner eigenen Verfügungsohnmacht bewußt, und zwar in der besonderen Erfahrung, daß jede Strukturierung, die er vollzieht, in ein und demselben Phänomen fundiert, daß aber auch keiner der möglichen Strukturierungsakte dazu führt, dieses Identische endgültig zu vereinnahmen und zu beherrschen.“ (Max Imdahl)
Variabilität, Dispositiv, phänomenologischer Raum – ich möchte mich der Malerei von Suse Krawagna mit einem Gefüge von Begriffen nähern, das nicht kunst- oder malereigeschichtlich, sondern vielmehr bild-/medientheoretisch, aber auch raum-/systemtheoretisch ansetzt. Die Begriffe sind im Wesentlichen: Variation und Differenz, genauer: die Differenz von Gleichartigem; Malerei als Dispositiv und schließlich der phänomenologisch verfasste Raum.
Zu den konkreten Arbeiten: Wir sehen uns in der Ausstellung von Suse Krawagna mit unterschiedlichen Arbeitsphasen bzw. mit Serien unterschiedlicher Entstehungszeiträume konfrontiert. Stets jedoch – soviel ist allen gemeinsam – geht die Künstlerin in gewisser Hinsicht von architekturalen Konstellationen aus, von räumlichen Dispositionen, die den Körper wie auch den Blick adressieren und konstellieren.
In der ersten und ältesten Arbeit im Eingangsbereich der Galerie ist das Fenster das Leitmotiv bzw. die außerbildliche Referenz. Das Fenster fungiert – ganz allgemein gedacht – als visuelle Öffnung und Erweiterung, aber zugleich auch als konstitutive Grenze komplementär verstandener Raumkategorien: zwischen Innen/Außen, Hier und „Anderswo“. Das Bild wird als Fenster in einen anderen, einen imaginären Raum angedacht. Dieser Kategorie des Imaginären weiter nachzugehen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Soviel lässt sich jedenfalls sagen: Die Künstlerin projiziert das „Framing“, die Blickkonstellation des Malereidispositivs selbst, um es rekursiv im Bild, genauer: im Möglichkeitsraum der Malerei, zu betrachten, zu erproben und zu befragen. Das künstlerische Bild macht sozusagen – um mit Waldenfels zu sprechen – nicht nur etwas sichtbar, es macht vielmehr die Sichtbarkeit selbst sichtbar, ohne dabei die Sphäre des Sichtbaren zu verlassen. Merleau-Ponty nennt dies eine „Reflexivität des Sinnlichen“.
Die zweite Bildserie zeigt einen signifikanten Unterschied zu den „Fenster“-Bildern. Hierin bezieht sich Krawagna anstelle des „Flachraums“ des Fensters auf kulturelle Gegenstände haptischer Qualität: Geländer, Gerüste, wie man sie von Spielplätzen zu kennen meint. Krawagna beschreibt diese als „geformte Gegenstände“, sie sind kulturell geprägt und mit einer bestimmten Funktion beschriftet. Es sind raumkonstituierende und -regulierende Gegenstände und Anordnungen, die den Körper adressieren und ihn quasi choreographieren. Sie evozieren Raumwahrnehmungen des Davor, Dahinter, Darunter, Daneben, aber auch des Danach.
Der Spielplatz ist jedoch dezidiert ein Ort des explorativen sinnlichen Experiments, er ist ein Möglichkeitsraum, ein Erlebnis-Raum des Geordneten wie zugleich des Akzidentiellen. Wir verstehen ihn als libidinös besetzten Ort des Spaßes und des Spiels, als einen Ort der Freiheit. Raumordnungen bzw. -anordnungen werden körperlich auf ihre Grenzen und Möglichkeiten hin erprobt. Die Geländer und Rutschen sind sozusagen einerseits Ordnung stiftend, andererseits Ordnung unterminierend.
Krawagna konfrontiert nun diesen Ort sinnlicher Potentialität mit dem Flächenraum der Malerei und den ihm immanenten Möglichkeiten „imaginärer Bildräumlichkeit” (Nussbaumer). Jedoch nicht im Sinne von Abbildung, sondern hinsichtlich der medienspezifisch möglichen Verschränkung und Synthese unterschiedlicher Raumlagen: Wir sehen den alternierenden Wechsel von Figur und Grund, Umschlagphänomene und Durchdringungen „oberer, mittlerer und unterer“ Lagen. Komplementäre und divergente Kategorien wie Davor und Dahinter, aber auch das zeitliche Davor und Danach scheinen ineinander überzugehen und in einem „Raumlagenvielfach“ zu koexistieren. Malerei wird – quasi in Analogie zum Spielplatz – zum Möglichkeitsraum sinnlicher Erfahrung, jenseits kultureller Ordnungsregimes des Räumlichen.
Zur dritten, der jüngsten Bildserie der Künstlerin: Wie bereits erwähnt, arbeitet Suse Krawagna stets mit Referenzen zum aktualen, sogenannten „dreidimensionalen“ Raum. Eine Referenz dieser Serie bildet ein Haus, oder prototypisch „das“ Haus. Wiederum ein körperbeschriftendes und -formendes Gefüge. Dieses lässt sich, wenn überhaupt, jedoch nur in Andeutung und als verschwommenes Schema wahrnehmen. Wichtiger als diese abbildhafte Entsprechung: Im Format kleiner Farbfeldbilder führt Krawagna sämtliche außerbildlichen Referenzen über in den non-repräsentativen Verhandlungsraum, den Flächenraum der Malerei. Es sind folglich stets a-mimetische Farbflächen, welche den eigentlichen Ausgangspunkt und die jeweilige formale Referenz für nun folgende größere Bilder formulieren. In diesen kleinen Farbfeldbildern legt die Künstlerin quasi ein Magazin, ein Repertoire an Formen und Farben sowie einen bestimmten Abstraktions- und Rekursionskontext fest, mit dem sie in Folge in selbstbezüglicher Verschränkung von malerischem Prozess und visueller Wahrnehmung operieren kann. Die autonomisierten Bildelemente werden zum abstraktiven Thema variationeller Durchführungen. Systemtheoretisch könnte man von einem autopoietischen System der Selbstproduktion aus eigenen Elementen sprechen.
Worin liegt nun die Spezifik der Räumlichkeit dieser Bilder, die ich erst einmal „atmosphärisch“ nennen möchte? Die Bilder zeichnen sich im Gegensatz zu früheren durch eine bestimmte Form der Unschärfe aus. Einerseits sind sie aus Schichten, aus malerischen Lagen unterschiedlicher Dichtheitsgrade aufgebaut. Die aus diesem Farbschichtenkomplex „unbestimmt-bestimmbaren“, sprich unscharfen Bereiche evozieren den Eindruck eines malerischen, eines nicht-perspektivischen Fernraums. Dieser Eindruck der Fernsicht wird andererseits jedoch noch verstärkt und überformt durch die den Eigenwerten der Farben immanent räumlichen Energien und Eigenschaften der Nähe und der Ferne. „Nur Farben erbringen ihrer Natur nach eine Anschauungseinheit von Fläche und Raum zugleich, die Erfahrung des Raumes ist immer zugleich eine Erfahrung der Fläche. [...] In der unabschließbaren Erfahrung des nicht erschließbaren Farbraumes verliert der Beschauer nicht nur alle Gewissheit seines eigenen Standortes.“ Er ist verwiesen „auf sein eigenes Selbst“. (Imdahl)
Betrachten wir die Bilder im Entstehungskontext der Serie, so ist der Eindruck atmosphärisch-imaginärer Räumlichkeit und Tiefe als solcher nicht intendiert, sondern zeigt sich als variables Phänomen aufgrund der Interferenzen eines bestimmten Formen- und Farbenvokabulars, das in abstraktiven „Vor-Bildern“ festgelegt wurde. Interessant ist, was geschieht, wenn eine Variable in Bezug zum „Vor-Bild“ sequenziell transformiert und moduliert wird, und was notwendig ist, um das kompositionelle Flächengefüge in Korrespondenz zu dieser teils liminalen Irritation zum „Funktionieren“ zu bringen. Imdahl spricht im Zusammenhang mit variationeller Wiederholung vom „Unendlichkeitspotential möglicher Räume als eine weder abbildbare noch sonst wie einholbare Wirklichkeit“. Oder mit Luhmann: „Jede Festlegung einer Form ist zugleich eine Irritation mit noch offenen Anschlußentscheidungen.“
Die Künstlerin öffnet – nun rezeptionsästhetisch gedacht – diese sukzessiven Abweichungen und variationellen Bildmodulationen einem vergleichenden „Sehen in freier Variation“ (Imdahl). Der Raum der Malerei lässt sich somit im Kontext dieser Bilder Krawagnas als eine zunehmend phänomenologisch begriffene Räumlichkeit beschreiben, in der kinästhetische Erfahrungsmodi, sprich Bewegungswahrnehmungen „mitsamt dem vielfältigen Register der Leiblichkeit“ (Waldenfels) konstitutiv sind.
In dieser differenziellen Performanz der Bilder Krawagnas zeigen sich die Labilität und die Potentialität der Wahrnehmung zugleich. Medientheoretisch könnte man von einem Dispositiv im Sinne einer visuellen Erwartungsanordnung sprechen, von einer piktoralen, aber auch zugleich interpikturalen, das Einzelbild überschreitenden Verweisstruktur. Dieses mediale Dispositiv vermag auch stets andere Unterscheidungen und Beobachtungen vorstellbar zu machen, und damit wird der Prozess der Wahrnehmung zu einem unabschließbaren, sich ins Unendliche verschiebenden und fortschreibenden Prozess der Differenzierung. „Das Medium also ist im Falle temporalisierter Verhältnisse immer nur als Vergangenheit und Zukunft der Form präsent und nie als Aktualität an sich.“ (Luhmann) Variabilität und Differenz werden lesbar als die Resistenz des Medialen gegenüber Vereinnahmung, Fixierung und Arretierung der Form. Kulturtheoretisch könnte man mit Dirk Baecker in dem Sinn abschließend sagen: „Kultur ist der Einwand des tertium datur gegen die Zweiwertigkeit aller Unterscheidungen. Das Unbehagen der Kultur ist das Ungenügen an der Binärität.” Kultur stellt daher „nicht auf Identität, sondern auf strukturelle Varietät ab.“
Literatur:
Dirk Baecker, Wozu Kultur?, Kadmos, Berlin, 2000.
Dirk Baecker, Kommunikation, Reclam, Leipzig, 2005.
Max Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, Wilhelm Fink, München, 1994.
Max Imdahl, Autobiographie, in: Heinz Liesbrock, Die Unhintergehbarkeit des Bildes, Richter, Düsseldorf, 1996.
Niklas Luhmann, Medium und Form, in: ders., Die Kunst der Gesellschaft, Suhrkamp, F/Main, 1997.
Ingo Nussbaumer, Die Idee des Bildes, Edition Splitter, Wien, 2002.
Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, in: Christian Bermes (Hg.), Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg, Meiner, 2003.
Bernhard Waldenfels, Das Rätsel der Sichtbarkeit. Kunstphänomenologische Betrachtungen im Hinblick auf den Status der modernen Malerei, in: ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M., 1991.